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Das amerikanische Duell

Als vor einigen Jahren bekannt wurde, dass Harley-Davidson als erster unter den renommierten Herstellern ein elektrisches Motorrad auf den Markt bringen würde, war die Skepsis groß: Ausgerechnet die Marke aus Milwaukee, die sich mehr als jede andere ihrer Historie verpflichtet fühlt, wagt den Sprung ins elektrische Zeitalter? In Konkurrenz zu schlanken Start-ups wie Zero und Energica?

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Heute, da die Livewire auf dem Markt und nach anfänglichen Problemen mit der Lade-Software auch für Kunden verfügbar ist, scheint die Antwort klar: Ja, das Risiko hat sich gelohnt. Jeder, der sie fährt, ob Tester oder Kunde, und der nicht völlig verbohrt ist gegen jede Art der Elektromobilität, zeigt sich begeistert. Und so wird es Zeit für ein Duell auf Augenhöhe: Die Fat Boy, die gerade ihren 30. Geburtstag mit einem Sondermodell feiert, gegen die neue Livewire. Welche bietet mehr amerikanisches Motorrad?

Die Fat Boy 114 also: Wuchtig, über 300 Kilogramm schwer, mit 1,9-Liter-V2. Die fetten, aus dem Vollen gefrästen Scheibenräder, auch vorne nur an einer Seiten mit einer Bremse bestückt, sind eine Provokation für jeden Fan schlanker, filigraner Technik. Kotflügel, Lampengehäuse und andere Teile, die üblicherweise aus Kunststoff bestehen, sind aus Metall gebogen. 21.145 Euro kostet sie in Deutschland, 25.815 in Österreich. Harley-Preise.

Dagegen die Livewire: Auch mit Achtung-hier-komme-ich-Auftritt - und doch ganz anders. Die Tankattrappe ist ein Zugeständnis an den gelernten Geschmack, unter dem "Einfüllstutzen" verbirgt sich der in Europa weithin kompatible CCS-Stecker. Die Energie fließt ein Stockwerk tiefer, in den riesigen, das Design dominierenden Akku-Pack. Der fast schon kompakte Motor hängt darunter. Trotz aller Neuartigkeit ist dieses Mopped als Harley erkennbar. Was auch für den Preis gilt: 32.165 Euro. Oops!

Aufsitzen und fahren. Die Fat Boy: Moderner als gedacht, der Funkschlüssel für die Wegfahrsperre verbleibt in der Lederjackentasche. Ein Druck auf den Startknopf, und sie bollert los. Die Lenkerenden vibrieren und aus dem Drehzahlkeller zieht der dicke Brocken mächtig an. Der Fahrer thront aufrecht und ungeschützt über der Straße. Fahrtwind? Ignoriert er nicht mal. Sportliches Kurvenkratzen? Ist was für Kids.

Das Gewicht ist in schnellen Kurven kaum mehr spürbar - kleiner Scherz. Natürlich trägt der Harley-Fahrer jedes Kilo seiner Fat Boy mit Stolz um die Biege. Klar, die Fat Boy ist heute schneller unterwegs als damals, als sie Arnold "Terminator" Schwarzenegger als Dienst-Krad diente, mit besserem Fahrwerk und stärkerem Motor (94 PS!). Entscheidend für den Wumms aber ist das Drehmoment von fetten 145 Newtonmetern.

Damit wären wir auch bei der Schnittmenge mit der Livewire. PS werden ja sowieso überschätzt, die eigentliche Power kommt von den Newtonmetern. Von denen hat die Livewire 116; auch sehr ordentlich, aber weniger als die Fat Boy. Auf dem Papier. Aber die Wahrheit ist auf der Straße, und dort langt die Elektrikerin hin, als gäbe es kein morgen. Im Modus "Sport" beschleunigt sie ab null wie kaum ein anderes Fahrzeug, das Menschen ohne Formel-1-Lizenz bewegen dürfen. In drei Sekunden auf 100: ein beeindruckender Papierwert, aber auch der nur die halbe Wahrheit. Was so unerbittlich an den Magennerven zerrt wie eine in die Tiefe stürzende Achterbahngondel, ist die ab dem ersten Meter voll einsetzende Kraft des Elektromotors. Typisch E-Mobil, schon oft erklärt, aber man weiß erst, was gemeint ist, wenn man es selbst erlebt hat.

So ist der Motor der Livewire in Sachen Performance nicht nur dem V2 aus Milwaukee klar überlegen - er sammelt so ganz nebenbei auch alle japanischen und bayerischen, nominell teils stark überlegenen Vierzylinder ein. Das wäre natürlich wertlos, wenn Fahrwerk und Bremsen dadurch irgendwie überfordert wären. Sind sie aber in keiner Weise: Die Strom-Harley lässt sich sicher und bis zum Fußrasten-Kontakt durch Kurven bewegen, wobei es hilft, dass der niedrige Schwerpunkt aus Akku und Motor - jetzt ernst gemeint - das Gewicht von fünf Zentnern relativiert.

Der Fahrer sitzt leicht, aber nicht übertrieben sportlich, mit den Füßen recht weit hinten: Einer der großen Unterschiede zur Fat Boy, auf der man seine Beine nach vorne streckt. Ein anderer, natürlich: der Sound. Man kann es genießen, dass die Livewire ihre Leistung auch akustisch scheinbar mühelos, nur mit einem Zischen oder Surren entwickelt. Aber wer den Charakter einer Harley-Davidson an deren gewohnten, sonoren Verbrennungsgeräusch festmacht, der wird mit dem Elektrobike nicht happy.

Es ist also in fast jeder Hinsicht Geschmackssache, ob man eher zur Fat Boy oder zur Livewire tendiert. Vielleicht spricht Letztere eher weniger die bisherigen Marken-Fans an als neue. Als typisch amerikanisch aber gehen beide durch: Die Fat Boy repräsentiert die USA auf konservative Weise, sie steht für die endlosen Straßen des mittleren Westens, für Macht durch Größe und den unendlichen Hunger nach Öl. Die Livewire zeigt das neue Amerika, in dem Daten lichtschnell durchs Silicon Valley flitzen, und dessen (lokal) saubere, global dominierende neue Economy mit Strom getrieben ist.

Amerika hat die Richtung bei der Mobilität vorgegeben. Erst, dank Tesla, bei den Autos. Jetzt, (auch) dank Harley, bei den Bikes. Deutschland und Japan: Wo bleibt Ihr?

Technische Daten

Harley-Davidson Fat Boy 114:
- Motor: V2
- Hubraum: 1868 ccm
- Leistung: 69 kW/94 PS
- max. Drehmoment: 145 Nm
- 0 bis 100 km/h: 5,4 Sekunden
- Spitze: ca. 190 km/h
- Gewicht: 314 kg
- Verbrauch: 5,5 l/100 km
- Preis DE: 21.145 Euro
- Preis AT: 25.815 Euro

Harley-Davidson Livewire:
- Motor: Permanentmagnet-Elektro
- Leistung: 78 kW/106 PS
- max. Drehmoment: 116 Nm
- 0 bis 100 km/h: 3 Sekunden
- Spitze: 177 km/h
- Gewicht: 249 kg
- Reichweite (WMTC): 157,7 km
- Preis DE: 32.165 Euro
- Preis AT: keine Info

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